Vom Charme der Genügsamkeit

Was bedeutet Genügsamkeit? Was braucht man wirklich zum Leben? Und was ist eher überflüssig und belastend? Diese Fragen stellen sich in Zeiten des materiellen Überflusses immer mehr Menschen.

Mann gibt gebrauchte Sachen ab.

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Vielleicht kennen Sie das? Sie sind zu Gast bei netten Leuten und wollen auch den Kindern eine kleine Freude machen. Ein Blick in die Kinderzimmer verrät Ihnen dann: Genügsamkeit ist hier ein Fremdwort, es gibt bereits alles doppelt und dreifach. Jedes Kinderzimmer gleicht einem überfüllten Spielzeugladen. Sicher: Die Kinder freuen sich über das neue Spielzeug – eine kurze Zeit. Dann ist der Neuigkeitswert verflogen, und es landet in der Ecke neben all den anderen Stofftieren, Autos, Puppen, Spielzeugfiguren, Bilderbüchern. „Ab und zu sammle ich Sachen ein und verschenke sie“, erzählt eine Mutter. „Sonst wird es zu viel.“

Bei Erwachsenen ist es oft nicht anders. Was schenken Sie jemandem zum Geburtstag, den Sie nicht gut genug kennen, um seine Wünsche zu erraten? Und der zu höflich ist, Sie Ihnen auf Anfrage mitzuteilen? Nicht selten landet das Ergebnis des Bemühens in irgendeiner Schrankecke. Leider doch nicht ins Schwarze getroffen – schließlich haben wir ja eigentlich von allem schon genug.

Vom Überfluss zum Überdruss

Und es wird immer mehr: Jeder Gang ins Einkaufszentrum überschwemmt unsere Sinne mit verlockenden Angeboten. In jedem Supermarkt müssen wir uns nicht nur zwischen über 50 Joghurts entscheiden, sondern auch noch der aufgetürmten Schnäppchenware widerstehen. Anstrengend ist das. Zur Zeit der Tante Emma-Läden war Einkaufen noch beschaulicher.

Unsere Kühlschränke sind vollgestopft. Unsere Kleiderschränke meist auch. Und auch unsere Keller, Garagen oder Dachböden müssten mal wieder entrümpelt und ausgemistet werden. Nur die ganz konsequenten Menschen schmeißen rigoros weg oder verkaufen Überflüssiges im Internet. Wie schwer das vielen fällt, verraten zahlreiche Ratgeber zum Thema. Verrückt: Wir drohen unter der Last unserer Habseligkeiten zu ersticken. Dabei herrscht an anderen Orten der Welt große Not.

Komfort kostet Lebenszeit

Genügsamkeit fällt schwer. Wir können den Verführungen der Überflussgesellschaft nur schwer widerstehen: Vielleicht eine modernere Kaffeemaschine zum Geburtstag, die wirklich tollen Cappuccino machen soll? Mal wieder ein paar schicke Schuhe in der neuen Trendfarbe, obwohl unser Schuhregal überquillt? Oder wir erstehen endlich das teure Sofa, das unser Wohnzimmer veredelt. Männer werden eher bei Autos schwach. Warum tun wir das, obwohl das Alte doch noch gut genug ist?

Denn egal, auf welchem Niveau wir uns bewegen – geschenkt gibt es nichts. Anschaffungen kosten Kraft: Überstunden, Mehrarbeit am Wochenende und viel Nerven, wenn Kreditverträge nicht bedient werden können. Prestige und Statussymbole bezahlen wir mit Lebenszeit. Und je mehr wir ackern, desto weniger Zeit haben wir, all die tollen Dinge wirklich zu genießen.

Teilen statt besitzen

Eigentum verpflichtet – und belastet auch. Das Auto ist ein Paradebeispiel. Durch hohe Spritpreise, Steuer und Versicherung, Instandhaltung, teure Reparaturen und ständige Parkplatzsuche kostet es viel Geld, viel Energie, viele Nerven. Und steht dann doch oft ungenutzt herum. Darum wurde 1988 in Berlin „Stattauto“ gegründet, damals war die gemeinsame Nutzung von Autos noch ein kommerzielles Experiment. Heute haben sich längst in allen Großstädten diverse Car-sharing-Projekte etabliert.

Weniger Kosten durch gemeinschaftlichen Nutzen: Inzwischen gibt es zahlreiche derartige Projekte. Gemeinschaftliche Stadtgärten und Haustausch im Urlaub gehören dazu. In Tauschringen und Talentbörsen kann man schon lange seine Fertigkeiten anbieten oder Dienstleistungen buchen – ohne Geld.

Genügsamkeit – (k)ein neuer Trend

„Weniger haben, mehr sein“ ist das Motto der neuen Genügsamkeit. Eigentlich ist sie ebenso wenig neu wie die Erkenntnis, dass Shopping-Touren, Schnickschnack in den Schränken und teure Urlaube nicht wirklich glücklich machen. Schon immer haben die Geschichten von Aussteigern und Konsumverweigerern fasziniert, die gesellschaftliche Erwartungen und belastenden Besitz hinter sich gelassen haben. Zeigen sie doch, wie wenig man wirklich zum Leben braucht. Die Idee des einfachen Lebens hat eine lange Tradition, gilt doch der Verzicht auf materielle Güter in buddhistischen wie christlichen Orden als erstrebenswertes Ziel für das eigene Seelenheil. Tipps, wie man minimalistischer leben kann, finden sich zum Beispiel hier.

Genügsamkeit – die Idee, auf alles Überflüssige zu verzichten und sich nur auf das absolut Notwendige zu beschränken, findet heute gerade unter den Jüngeren immer mehr Anhänger. In der reizüberfluteten Wegwerfgesellschaft wollen sie bewusster leben und wenden sich gegen Energieverschwendung, Lebensmittel-Überproduktion und Massentierhaltung. Kleidung, Bücher, unnötige Einrichtungsgegenstände werden verschenkt und eingetauscht gegen ein Gefühl von Freiheit und Freiraum, der Vollzeitjob gegen einen Teilzeitjob, um mehr Zeit für Freunde, Familie, eigene Interessen und bürgerschaftliches Engagement zu haben. Es ist der Versuch, in einer sich immer rascher verändernden, fremdbestimmten Welt wieder zu mehr Klarheit, Selbstbestimmung und gemeinschaftlichem Handeln zu finden.